Zur Situation in Bayern (Augsburg und Schwabmünchen)

Der Hungerstreik im Flüchtlingslager Neusässer Straße und die Streikaktionen in den anderen Lagern in Augsburg und Schwabmünchen werden fortgeführt – die Ignoranz von Regierung und Behörden ist unbeschreiblich

Pressemitteilung, 2. Dezember 2010

Pressemitteilung Deutschland Netzwerk Lagerland, 01. Dezember 2010

Lagerunterbringung ist menschenunwürdig

Netzwerk Deutschland Lagerland fordert Sozialministerin Christine Haderthauer auf, Landtagsbeschlüsse sofort umzusetzen / Der Asylkompromiss von CSU und FDP muss neu verhandelt werden

Am heutigen Donnerstag, den 02.12.2010 stellten der Bayerische Flüchtlingsrat, die Karawane München und Flüchtlinge aus Augsburg und Coburg die Ergebnisse der Schmutzigen-Donnerstags-Tour des Netzwerks Deutschland Lagerland vor. Das Netzwerk war an den Donnerstagen im Oktober und November in den bayerischen Regierungsbezirken unterwegs und besichtigte die Situation in den Flüchtlingslagern. Was sie antrafen, war erschreckend: Überfüllte Zimmer, marode Bausubstanz, Befall mit Kakerlaken und Wanzen, defekte Sanitäreinrichtungen und viele isolierte und hoffnungslose Flüchtlinge.

Als Ergebnis lässt sich festhalten:

  • Die Zahl der Asylbewerber ist in den vergangenen Monaten auf niedrigem Niveau angestiegen
  • Die Erstaufnahmeeinrichtungen (EA) sind überfüllt, die EA in Zirndorf um 5 % bei unserem Besuch am 7.10.2010. In München wurde sogar kurzzeitig das Containerlager in der Waldmeisterstraße, das per Landtagsbeschluss geschlossen worden war, als Außenstelle der EA wiedereröffnet. Viele Flüchtlinge sind derzeit statt in der EA in Pensionen untergebracht, einige sogar in den Flughafenasylcontainern im Sicherheitsbereich am Münchner Flughafen
  • Die Flüchtlingslager in ganz Bayern sind voll, die Bezirksregierungen bestätigten überall, dass an eine Schließung der marodesten Lager derzeit nicht zu denken sei, da sie die steigende Zahl neuankommender Flüchtlinge unterbringen müssten und händeringend nach neuen Lagerstandorten suchen. Der Regierungspräsident von Oberfranken warb sogar in einem Bericht des Bayerischen Fernsehens um potentielle Vermieter mit dem Argument: „Wir zahlen gut.“
  • Die Kosten der Lagerunterbringung von Flüchtlingen sind weit höher, als bisher von uns geschätzt. Laut einem Bericht des Bayerischen Sozialministeriums an den Bayerischen Landtag zur Situation im Flüchtlingslager Aschaffenburg belaufen sich die Kosten für Miete, Bewirtschaftung, Heizung, Bauunterhalt und Personal auf 1,74 Mio. Euro – umgerechnet macht das 461 Euro pro Person und Monat. Wären alle Flüchtlinge in Aschaffenburg in Wohnungen statt im Lager untergebracht, könnten alleine in Aschaffenburg jährlich 640.000 Euro eingespart werden. Dabei ist Aschaffenburg eins der kostensgünstigsten Lager, da es sich um eine ehemalige Kaserne handelt
  • Der „Asylkompromiss“ von CSU und FDP, im Juni 2010 vom Bayerischen Landtag beschlossen, wird noch immer nicht vollzogen. Versuchen Flüchtlinge auf der Grundlage dieses Beschlusses eine Auszugserlaubnis aus den Lagern zu erhalten, müssen die Bezirksregierungen diese Anträge nach der alten Gesetzeslage ablehnen
  • Die Regierungen sind bemüht, die bestehenden Flüchtlingslager so umzurüsten, dass die Mindeststandards eingehalten werden können. Doch selbst dort, wo dies gelingt, bringt das nur wenige Verbesserungen. Die Unterbringung von Flüchtlingen in 4-6-Bettzimmern stellt eine massive Belastung für die betroffenen Flüchtlinge dar und eine Toilette pro 10 Personen ist einfach zu wenig

Während der Schmutzigen-Donnerstags-Tour begannen Flüchtlinge in Denkendorf spontan mit einem Essenspaketeboykott. Der Protest der Betroffenen sprach sich in den bayerischen Flüchtlingslagern herum, immer mehr Flüchtlinge schlossen sich den Boykottaktionen an. Derzeit verweigern 450-500 Flüchtlinge in Denkendorf, Hauzenberg, Coburg, Schwabmünchen, Augsburg, Wallersdorf und Böbrach die Annahme der Essenspakete, 250 von ihnen aus dem Flüchtlingslager in der Neusässer Straße in Augsburg befinden sich zudem nach eigenen Angaben in einem Hungerstreik. Sie fordern die Abschaffung der Lagerunterbringung, der Residenzpflicht und der Arbeitsverbote, Bargeld statt Essenspakete, eine bessere medizinische Versorgung und Zugang zu Deutschkursen.

Schlussfolgerungen:

  • Die menschenunwürdigen Zustände in den besuchten Flüchtlingslagern sind keine Ausnahmefälle, sondern Kennzeichen eines massiven strukturellen Problems.
  • Bayern hat ein System der Lagerunterbringung geschaffen, das vollständig verstopft ist. Während wieder mehr Flüchtlinge in Bayern ankommen und nach derzeitiger Gesetzeslage in Flüchtlingslagern untergebracht werden müssen, hat sich die Zahl derjenigen, die aus den Lagern ausziehen dürfen, nicht signifikant erhöht. Deshalb hat sich die Zahl der in Lagern untergebrachten Flüchtlinge innerhalb eines Jahres von 7500 auf 8400 erhöht
  • Dadurch kommt das System der Lagerunterbringung an seine Grenzen, die Regierungen sind nicht mehr in der Lage, alle Flüchtlinge in den bestehenden Lagern unterzubringen, sondern weichen sogar auf Gasthäuser und Ferienbauernhöfe aus.
  • An der Lebenssituation der Flüchtlinge hat sich kaum etwas verändert, von einer angemessenen Unterbringung „nach zeitgemäßen humanitären Maßstäben“ (s. Mindeststandards) kann keine Rede sein
  • Die Bayerische Staatsregierung hält weiter an der Maxime fest, mit der Unterbringung in Flüchtlingslagern „die Bereitschaft zur Rückkehr in das Heimatland“ (DV Asyl) zu fördern. Folgerichtig erklärt Sozialministerin Christine Haderthauer in einem Interview in der Passauer Neuen Presse von heute: „Wer mit den Leistungen in Deutschland nicht zufrieden ist, kann jederzeit zurück. Er bekommt dafür die größtmögliche Unterstützung seitens der bayerischen Staatsregierung“.

„Die aktuelle Situation in den bayerischen Flüchtlingslagern macht eines deutlich: die Lagerpflicht muss umgehend abgeschafft werden“, fasst Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat die Ergebnisse der Schmutzigen-Donnerstags-Tour zusammen. „Wir fordern CSU und FDP auf, ihren sogenannten Asylkompromiss nocheinmal aufzuschnüren und neu zu verhandeln. Erst wenn die Flüchtlinge in Bayern wie in anderen Bundesländern auch aus den Lagern ausziehen dürfen und sich eigene Wohnungen suchen können, ist eine Abkehr von der menschenunwürdigen Unterbringung in Flüchtlingslagern möglich. Dann haben die Bezirksregierungen auch genügend Unterbringungskapazitäten, um neu ankommende Flüchtlinge angemessen unterzubringen.“

An die Adresse von Sozialministerin Haderthauer richtet Thal die Forderung: „Folgen sie dem Beispiel des Innenministeriums, das noch am Tag der Beschlussfassung der minimalen Residenzpflichtlockerung mit einer vorläufigen Weisung die sofortige Umsetzung der Neuregelung anordnete. Weisen sie die Bezirksregierungen noch heute an, die vom Landtag beschlossenen Lockerungen der Lagerpflicht für Flüchtlinge sofort umzusetzen, und gehen sie endlich auf die Forderungen der Flüchtlinge ein. Denn Menschenrechte haben Vorrang vor Abschottung und Ausgrenzung!“

Haderthauer befeuert rassistische Vorurteile gegen Flüchtlinge

Zum Interview von Sozialministerin Christine Haderthauer in der Passauer Neuen Presse

In der Passauer Neuen Presse vom 02.12.2010 lässt sich Sozialministerin Christine Haderthauer über die Proteste der Flüchtlinge aus und versteigt sich zu der Aussage, dass die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge „unser Gastrecht missbraucht. Und zu diesen Personen sage ich: Wer mit den Leistungen in Deutschland unzufrieden ist, kann jederzeit zurück. Er bekommt dafür die größtmögliche Unterstützung seitens der bayerischen Staatsregierung“.

Der Bayerische Flüchtlingsrat ist empört über die diffamierenden Aussagen der Ministerin über Flüchtlinge in Bayern. Wie bereits in unserer Pressemitteilung gestern dargestellt erhielten bereits 33,8 % der Flüchtlinge, die 2009 in Deutschland einen Asylantrag stellten, eine Aufenthaltserlaubnis (AE). Nicht mitgerechnet sind die vielen Flüchtlinge, die sich diese AE erst vor Gericht erstreiten mussten, Kinder, die dieselbe AE wie ihre Eltern erhielten, oder Flüchtlinge, die eine AE durch Altfallregelungen oder Härtefallkommissionen bekamen. Geschätzt mindestens 70 % bleiben am Ende mit einer AE in Deutschland. Indem Haderthauer diesen Menschen den Missbrauch des Asylrechts vorwirft, legitimiert sie ihre menschenfeindliche Lagerpolitik und befeuert rassistische Vorurteile gegen Flüchtlinge in allen ihren Konsequenzen.

Im Weiteren behauptet Haderthauer, Bayern würde mit der Lagerunterbringung und den Essenspaketen nur Bundesgesetze vollziehen. Die anderen Bundesländer machen jedoch vor, dass es auch anders gehen kann. Teilweise werden Flüchtlinge dort generell in Wohnungen statt in Flüchtlingslagern untergebracht. Und die Mehrheit der Bundesländer gibt Bargeld statt Essenspakete oder Gutscheine aus.

Zudem erweckt sie den Eindruck, Flüchtlinge müssten nur in eine Liste schreiben, was sie essen wollten, schon würden ihnen die Lebensmittel wie im Schlaraffenland in den Mund wachsen. Flüchtlinge dürfen hingegen nur aus einem sehr begrenzten Angebot auswählen und werden mit qualitativ minderwertigen Lebensmitteln versorgt. Die Essenspakete sind auch noch unnötig teuer.

„Christine Haderthauer zieht rassistische Vorurteile aus der Mottenkiste der ausländerfeindlichen Propaganda der 1990er Jahre hervor. Es ist eine Frechheit, die Protestaktionen der Flüchtlinge wie Essenspaketeboykott und Hungerstreik zu diffamieren und ihnen jeglichen Grund abzusprechen, ohne eine Spur von Fachkenntnis zu beweisen. Sie ist als Sozialministerin für die menschenunwürdigen Flüchtlingslager in Bayern und die Mangelversorgung mit Essenspaketen verantwortlich“ kritisiert Alexander Thal vom Bayerischen Flüchtlingsrat. „Und zu dieser Person sage ich: Wer Flüchtlinge entgegen der Faktenlage pauschal als Asylbetrüger brandmarkt, kann jederzeit zurück ins Privatleben. Für die Sozialministerin sind solche Aussagen absolut untragbar!“