2011: Fazit „Tour der 1.000 Brücken“

7.000 km Radfahren waren das Ziel – aber sehr bald haben wir festgestellt, daß es wichtiger ist, die Etappen zu kürzen, um mehr Zeit mit den Menschen in den Flüchtlingsunterkünften zu haben, für Gespräche, Begegnungen, Austausch – wir haben uns mit Hunderten Flüchtlingen unterhalten, haben mehr als 80 Einrichtungen, Heime oder Lager besucht. Im Winter bei Eis und Schnee gestartet, haben wir bei über 20 Grad Sonnenschein wieder München erreicht – es waren schöne, manchmal beschwerliche Strecken, wichtig, um die vielen, oft so tragischen und traurigen Schicksale, von denen wir erfuhren, zu bearbeiten.

Eine lange Tour – und eine erschütternde dazu. Sie hat mich, und ich glaube jeden, der mich ein Stück weit begleitet hat, verändert. Nicht, dass ich an die goldenen Fassaden unserer Gesellschaft je geglaubt hätte – aber immerhin sollte doch ein Staat, der sich die goldenen Worte der Demokratie und der Freiheit groß auf die Fahnen schreibt, der im Namen der Menschenrechte Soldaten in die weite Welt entsendet, diese demokratischen Grundsätze auch im Innern einhalten. Die Art jedoch, wie hierzulande mit Flüchtlingen umgegangen wird, hat mit Menschenrecht und Grundgesetz nicht mehr viel zu tun. Das ist schrecklich, war aber nicht überraschend für mich. Was mich aber wirklich zutiefst erschrocken hat, ist die Selbstverständlichkeit mit der das geschieht und möglich ist. In so vielen Städten! So offensichtlich! So begraben durch Desinteresse und Vorurteile – so bewusst isoliert, ausgeschlossen, stumm gemacht und gedemütigt! „Die Würde des Menschen ist unantastbar…!“ – haben wir denn schon vergessen, warum gerade dieser Satz am Anfang unseres Grundgesetzes steht? Haben wir vergessen, was das hier für ein Land war vor 60 Jahren? Dass wir selbst die weltweit größten Flüchtlingsströme erzeugt haben? Dass wir einen Diktator an der Spitze hatten, vor dessen Terror wir wohl alle geflohen wären? Wir fühlen uns so grundlegend und endgültig sicher in der westeuropäischen Arche Noah – aber zeigen nicht die jüngsten Ereignisse in Japan, wie gefährdet alles Leben und wie trügerisch alle vermeintliche Sicherheit ist? Zwei Mal Fukushima hier bei uns – und wir sind auch ein Flüchtlingsland!

Nun spielen wir doch mal durch, was dann passieren würde. Wir haben zwei kleine Kinder, wir fliehen mit ihnen, unserem Partner, vielleicht noch unserer kranken alten Mutter. Wir lassen alles zurück, was wir besitzen, fliehen vielleicht jahrelang durch eine Odyssee aus Verzweiflung und Gewalt – und kommen dann endlich an in einem der reichsten Länder der Welt, in einem Land, das sich selbst immer als Vorbild für Recht und Demokratie nimmt – und wie geht es uns da in etwa? Vielleicht landen wir in einem Flüchtlingsheim wie Wunsiedel: mitten in der Stadt und doch völlig unbekannt. Hausdienst am Wochenende hat die Polizei. Wir bekommen zu fünft ein Zimmer von 20 Quadratmetern – es steht eine Toilette für dreißig Personen zur Verfügung, eine Waschmaschine für sechzig, keinen Gruppenraum, kein Deutschunterricht, keine Reiseerlaubnis. Das immer gleiche schlechte Essen. Es gibt 40 Euro Taschengeld pro erwachsene Person (jedes Kind 20 Euro) – davon müssen wir Kleidung kaufen, Bustickets kaufen, Schulsachen für die Kinder (ein Schulbuch kostet schon 20 Euro!), müssen Porto- und Telefongebühren zahlen, einen Anwalt (schaffen wir nicht), Übersetzungen (schaffen wir nicht), Gebühren für jeden Behördengang, Arzt- und Zahnarztgebühren, Medikamente usw. usw. Wir bekommen Briefe in einer Sprache, die wir nicht verstehen, wichtige Briefe, manchmal lebenswichtige, die uns Fristen setzen, von deren pünktlicher und korrekter Beantwortung unsere ganze Zukunft abhängt. Wir können Pech haben, wie ein Roma-Vater aus dem Kosovo. Vor seinen Augen haben albanische Soldaten ein Messer mehrfach in den Körper seines fünfjährigen Sohns gestochen, damit er verrät, wo sich die serbischen Stellungen befinden – und der zuständige deutsche Sachbearbeiter glaubt ihm nicht, behauptet, die Wunden habe er selbst seinem Sohn zugefügt – um sich hier eine Aufenthaltserlaubnis zu erschleichen. Wie antworten? Wer hilft? Und dann sagt man uns, wir hätten noch Glück gehabt: es hätte uns auch in ein Lager wie Langschoß bei Aachen verschlagen können. Mitten im Wald, 20 km vom nächsten Supermarkt entfernt, in völliger Abhängigkeit vom Hausmeister, dem einzigen Mann mit Auto (denn ein Bus hält hier nur einmal am Tag – und nur wochentags). Was tun, wenn wir krank sind oder unsere Kinder – und es gibt Kinder dort und es gibt Kranke und der Hausmeister fährt nur, wenn er selbst es für nötig hält. Dabei ist das gar nicht seine Schuld: er ist als Hausmeister angestellt. Er muß für eine unmenschliche Politik herhalten. Er ist mit aller Verantwortung alleingestellt. Gut: den internationalen Führerschein hätten wir auch, aber der gilt nicht in Deutschland und die Gebühren für eine Umschreibung können wir niemals zahlen von den 40 Euro monatlich. Arbeiten? Verboten! Strengstens verboten! Sollten wir dabei erwischt werden, drohen Geld- und Gefängnisstrafen, in jedem Falle (wie z.B. auch wenn wir gegen das Reisegesetz verstoßen und einen Bruder im benachbarten Landkreis besuchen) sind wir nach solchen Verstößen kriminell. Und als Kriminelle sinkt unsere Chance auf Anerkennung gleich null. Also halten wir still. Wir halten selbst dann still, wenn wir auseinander gerissen werden: die Mutter mit einem Kind in das eine Lager, der Vater mit den zwei anderen Kindern ins andere – oder aber die Mutter alleine und der Vater mit den Kindern wo anders. Kommt alles vor – und ohne Hilfe und massive Unterstützung seitens der Flüchtlingsorganisationen wird da auch kaum was geändert. Wir lesen – wieder bei dem Roma-Vater in Kassel, dass der Beamte schreibt, der Kosovo sei eine sichere Gegend, es gebe keinen Grund zur Flucht. Der Asylantrag sei deshalb abgelehnt. Der Roma-Vater weint. Die bringen mich um, wenn ich zurück gehe, die vergewaltigen meine kleine Tochter. Wir blicken in die Augen der Tochter. Erwachsenenaugen, traurig und müde. Was so alles sicher ist! Zumindest aus der Perspektive eines komfortablen Bürozimmers betrachtet! Jeder, der einen Urlaub in Afghanistan buchen möchte, würde von zehn Behörden besorgt zurückgepfiffen, aber immer mehr afghanische Familien werden zurzeit zurückgeschickt. Ein Widerspruch? Ja, aber nur, wenn man Deutsche und Afghanen gleich betrachtet.

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