Wir sind immer noch in Wunsiedel – wir verstehen nicht, dass wir – trotz allem – Glück haben sollen. Gut, wir sind in Sicherheit, denken wir. Denn wir ahnen ja nicht, dass uns die Behörden zunächst mal nichts glauben werden, dass wir alle Fluchtgründe beweisen müssen, wir wissen nichts von der Verzweiflung des Roma-Vaters. Wir können auch zu fünft auf zwanzig Quadratmeter leben, es ist ja nur für ein paar Wochen. Dann erfahren wir anderes: Familien, die seit zehn Jahren so leben, mit halberwachsenen Kindern, noch immer in den gleichen zwanzig Quadratmetern. Wir sehen die Männerquartiere: 4,5,6 Männer auf zwölf Quadratmeter. Das geht nur in Doppelstockbetten. Wie in Reutlingen. Es gibt einen Richtwert für Baden-Württemberg – 4,5 Quadratmeter stehen jedem zu – aber zur Not werden eben die Quadratmeter der Flure und Küchen und Hygieneräume dazugerechnet. Die Hygieneräume verrostet, runtergekommen, nie saniert, die Zimmer nicht durchzulüften – zwei windstille Innenhöfe zu beiden Seiten – im Sommer vierzig Grad in den Zimmern – sechs Männer: Christen, Muslime, Araber, Russen, Schwarzafrikaner – egal, alles zusammengepfercht, ohne Aufgabe, zur Langeweile und Tatenlosigkeit verurteilt – und das nicht für zwei Wochen oder zwei Monate – sondern für zehn oder fünfzehn Jahre. Eine Frau in Mecklenburg-Vorpommern, 27 Jahre alt, die als dreijähriges Mädchen hierher kam – und nur Lager kennt, ihr ganzes bisheriges Leben nur in Duldung, in Reise- und Arbeitsverbot – oder der Fall eines Mannes aus Sri-Lanka – seit 35 Jahren im Flüchtlingsheim – 35 Jahre! – fast mein ganzes Leben! Als ich als siebenjähriger meine Lehrer ärgerte, kam er hier an, voller Hoffnung. Voller Glauben an dieses Land im goldenen Westen…
Soll ich den Fall weiterspinnen? Soll ich auf die schrecklichen Heime in Möhlau, in Bremen, in Ratingen, in Rheinfelden, in Schwäbisch-Hall, in Oberursel, in Augsburg, in Münster, in Gerstungen eingehen? In Gerstungen, wo mir schon im Vorfeld Hausverbot erteilt wurde, wo bereits die Polizei auf mich wartete, damit ich ja nicht in Kontakt mit den Flüchtlingen trete! Die NPD hatte dort übrigens keine Probleme, das Heim zu besichtigen und ihre zynischen Flugblätter zu verteilen, in denen sie „Heimreisefinanzierungsvorschläge“ machte. (Gerstungen ist übrigens nicht das einzige Heim, in das ich nicht hinein darf. Besonders die privatisierten Einrichtungen, also diejenigen, die sich in der Hand privater Unternehmer befinden, sprechen immer wieder davon, daß die Flüchtlinge kein Interesse an einer Begegnung hätten (wie in Berlin-Marzahn) oder sprechen schlicht Besuchsverbote aus.)
Ich war dann trotzdem in Gerstungen. Nicht offiziell diesmal. Und werde wieder hin gehen. Und nicht nur ich, davon bin ich überzeugt. Weil es ein Ort ist, in dem die Menschlichkeit im Sterben liegt. Bei dem Wegschauen schuldig macht. Ein Familienvater, der im Schlafanzug frühmorgens ein paar Meter in die falsche Richtung spaziert und die Landkreisgrenze überschreitet, die unmittelbar neben dem Heim verläuft – und ein Polizist, der ihm deshalb eine saftige Geldstrafe aufbrummt, eine Geldstrafe, die er nicht zahlen kann. Ein Flüchtlingskind, das sich an scharfkantigen Metallteilen auf dem Gelände schwer verletzt – und die Metallteile sind immer noch dort – ein Jugendlicher, der mit einem Stock die Scheiben des nahen Edekaladens zerschlägt und dann selbst die Polizei ruft, um ins Gefängnis zu kommen, weil das Leben dort erträglicher ist.
Geschichten! So viele Geschichten trage ich mit – und so viele Schicksale – und so tolle Menschen, so viel Gastfreundschaft trotz all der Not – und die Hoffnung, ich könnte ihnen vielleicht helfen. Aber wie könnte ich? Denn die Gesetze erlauben ja nicht einmal das: ich kann ihnen keine Arbeit geben. Selbst wenn ich hätte: ich dürfte ihnen keine Wohnung geben, nicht einmal zum Urlaub kann ich sie einladen ohne die Erlaubnis der Behörden.
Geschätzte 40.000 Menschen leben so, in Lagern wie diesen, in Unfreiheit, in Isolation, in geistigen Stillstand gezwungen und ohne Perspektive. Sie werden krank, depressiv, sie leben in ständiger Angst, die Polizei klopft an die Tür und setzt sie ins nächste Flugzeug. Menschen, die nichts Schlimmes getan haben – Menschen, die sich in ihren Ländern für andere eingesetzt haben, die mutig gegen den Terror von Diktaturen angegangen sind, überzeugte Demokraten – und wenn schon überall das Horrorbild des lauernden Terroristen geschaffen wird: wer ist wohl eher zu Verzweiflungstaten bereit: der gequälte, in die Ecke gedrängte, zu Stillstand gezwungene Mensch oder derjenige, der sich entfalten darf, der freundlich und mit Achtung aufgenommen wird? Immer wieder höre ich folgenden Satz: „Gefängnis wäre besser! Denn dort wüssten wir wenigstens, warum wir verurteilt wurden! Hier liegt die Schuld darin, dass wir im falschen Land geboren wurden!“ – klingt das nicht bekannt? Lag die Schuld vor sechzig Jahren nicht auch darin „im falschen Land geboren zu sein“?
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